DE – Warnung: In diesem Artikel werden Blut und Gewalt thematisiert.
Ich sitze auf dem kalten Stein und warte. Warte darauf, dass uns gesagt wird: „Es ist alles in Ordnung, Sie dürfen jetzt gehen.“ Meine Gedanken wirbeln in meinem Kopf. Szenen die ich nicht vergessen kann.
Vor wenigen Stunden war ich noch auf einem Konzert, habe die Augen geschlossen und die Musik genossen. Dankbar für diese Augenblicke, die mir fünf Monate zuvor an meinem Geburtstag geschenkt wurden. Für Musik, dessen Songtext ich nicht kannte und einfach nur fühlte. Ich hätte ja nicht wissen können, was mich und viele andere an diesem Abend noch erwartet.
Ich stehe hinter der Scheibe, sehe einen Aufruhr. Ich kann nicht weggucken, bin Neugierig, gehe näher an die Scheibe ran. Beobachte alles. Geschrei, Aggression, seine helle Jacke geht zu Boden und Schubserei, mit dem Mann mit der roten Jacke*. Sie rangeln, schlagen sich und wandern prügelnd über den Platz. Mittlerweile sind die beiden hinter dem Baum und hin und wieder blitzt die rote Jacke oder sein weisses Hemd auf. Direkt daneben prügeln sich zwei weitere, beide gehören jeweils zum weissen Hemd oder roten Jacke dazu. Es geht alles so schnell. Plötzlich stürmt die rote Jacke hinter dem Baum hervor, verschwindet aus meinem Blickfeld und geht zurück hinter den Baum. War das Blut an seiner Hand?
Der Mann im hellen Hemd taucht hinter dem Baum auf. Sein Hemd ist übersäht mit Blutflecken, sein Gesicht voller Blut, er fasst sich an den Kopf. Er torkelt über den ganzen Platz, verschwindet aus meinem Blickfeld und knallt gegen die Scheibe. Er steht auf und hat einen leeren Blick. Sein Gesicht kreidebleich. Ich gucke an seine Nase. Hier stimmt etwas nicht. Ganz und gar nicht. Das ist keine einfache Prügelei. Er taumelt, nimmt die Hand vom Kopf und dann sehe ich es. An seinem Hals klafft ein offener Spalt.
Millionen Gedanken schiessen mir in den Kopf, während alle sich an die Scheibe drücken wollen, seine Beine nachgeben, tragen mich meine davon. Ich laufe. Security. „Ruft sofort einen Notarzt!“ Die Polizei ist schon unterwegs. „Nein, sein Hals ist aufgeschnitten. Er braucht Hilfe.“
Er wird an die Wand gelehnt. Jemand rennt zu ihm. Drei Polizeiautos treffen ein. Zwei weitere Hinterher. Quietschende Reifen. Blaulicht. Ein Schäferhund an der Leine ist ausser sich. Er steht auf zwei Beinen, ein Polizist hält die Leine fest in der Hand, sein Maul bewegt sich. Ich beobachte stummes Gekläffe hinter der Scheibe. Ein anderer Mann liegt auf dem Bauch, fünf Polizisten drücken ihn zu Boden und legen ihm Handschellen an. Zwischen all dem Blaulicht taucht endlich das Tagesleuchtrot des Krankenwagens auf und verschwindet wieder.
Ich sitze auf dem kalten Stein und warte. Neben mir zwei Männer. Wir haben unsere Aussage gemacht und starren Stumm in die Nacht. Der Platz um uns herum wurde abgesperrt, wir warten auf die Bundeskriminalpolizei. Ob sie zum Opfer gehören, fragte ich sie. Sie hätten alles beobachtet antwortet mir einer von beiden in perfektem Deutsch. Sein Freund hätte zwei Männern erste Hilfe geleistet. Auf meine Frage, was sie machen antwortet er mir, dass sie Asylbewerber sind. Aus Syrien.
Ich kann es nicht glauben. Sein Deutsch ist perfekt, aber gleichzeitig wie deine und meine deutsche Sprache. Hier und da eine Silbe verschluckt und ja, es wär wohl ein scheiss Abend. In Syrien hat er Deutsch studiert und für eine deutsche Firma gearbeitet. Sein Freund versteht erst nicht was ich will. Antwortet „yesterday“, „Syria“ und dann endlich „boxing“. Wir finden heraus, dass wir eine gemeinsame Sprache sprechen und unterhalten uns.
Er wäre in Syrien Boxer, Jeansmodel und könnte sticken, so wie die Motive auf meinem Oberteil. Er hätte versucht die Jungs auseinander zu bringen. Worte sind besser als Fäuste sagt er, während er zugibt, dass er auch beide hätte ausknocken können. Jetzt sitzt er hier, ohne T-Shirt unter der Jacke und zieht sich den Reissverschluss höher. Starrt wieder in die Ferne.
Wir unterhalten uns wieder auf Deutsch, sein Freund erzählt mir was passiert ist. Der Boxer hätte in Syrien viel gesehen, er konnte nicht glauben, dass ihm das viele Blut nichts ausmacht. Er wäre sofort hingelaufen, hätte sein T-Shirt ausgezogen und dem Opfer den Hals verbunden. So wie er es mit anderen schon in Syrien gemacht hat. Mit seinem zweiten T-Shirt hat er einem anderen die Hand abgebunden, um die Blutung zu stoppen, und die Scherben aus seiner Hand entfernt. Er hatte es nie gelernt, musste aber etwas tun, weil es funktioniert. Ohne Handschuhe, Angst vor Blut, Krankheit oder die Gefahr sich selbst zu verletzen durch die Scherben. Eigentlich wollten sie in Clubs gehen, Freunde finden und sind überall abgewiesen worden. Selbst in der schlimmsten Absteige der Stadt.
Wir sitzen auf dem kalten Stein und warten. Jetzt sind seine Hände blutig. Es hätte niemand Wasser für ihn gehabt. Ich kann das nicht glauben, gehe zu einem Polizisten und frage nach Desinfektionsmittel. Er hat Blut an den Händen, es gibt so viele Krankheiten. Wir reichen ihm die Flasche, damit er seine Hände reinigen kann. Er ist zu Fuss nach Deutschland gekommen, keine 24 Stunden in meiner Stadt, darf nicht in seine Station gehen und weiss nicht, ob er nicht schon zu spät dran ist, ob die Tür zu sein wird, ob er seine Situation dann erklären kann. Dann endlich die Nachricht, dass das Opfer ausser Lebensgefahr ist.
„Es ist alles in Ordnung, Sie dürfen jetzt gehen.“
Er ist Flüchtling, Boxer, Jeans-Model und Lebensretter.
*Detail von mir geändert, da der Artikel auf wahren Begebenheiten beruht
und sich vor kurzem Ereignet hat.
2 Comments
Leni
26. Oktober 2015 at 14:25Super geschrieben! Und ein Beispiel, wie viele andere. Es gibt so viele gute Beispiele, die zeigen, dass viele Flüchtlinge total viel Mitgefühl und Courage haben, was bei vielen Deutschen heutzutage ja zu fehlen scheint… Sowas muss geteilt werden :) :)
Liebe Grüße :)
mama
9. November 2015 at 17:13Toll wie du das geschrieben hast. Ich weiß das du immer hilfst und nie weg guckst bleib so wie du bist. Sei aber trotzdem vorsichtig. Ich hin stolz auf dich mein Engel. Wir sind alle Menschen egal voher wir kommen. :))